PROFONDO ROSSO (1975) von Dario Argento

PROFONDO ROSSO (Rosso – die Farbe des Todes, Dario Argento, 1975)

Rot
PROFONDO ROSSO (1975) oder Die Kunst des Findens

„Der Tod ist hässlich, nur Sterben ist schön“ – Sergio Leone.

PROFONDO ROSSO wird von vielen, darunter von so prominenten Filmemachern wie Quentin Tarantino, als einer der Schlüsselfilme des modernen Horrorkinos angesehen. Seine artifizielle Inszenierung und eigenartige Erzählstruktur, seine wuchtige Musik und seine glühenden Farben, seine extremste Gewalttätigkeit, seine Affinität zur bildenden Kunst und seine vielfältigen Motive und Subtexte lassen ihn als einen zu dieser Zeit einmalig kraftvollen und irritierenden Horrorfilm erscheinen. Tatsächlich aber gibt es in Argentos Film kaum ein musikalisches, motivisches oder inszenatorisches Element, das nicht bereits in seinen drei ersten gialli – zumindest in Ansätzen – vorhanden war: Die set pieces und der elliptische Erzählstil, die explizite Gewalt, das Farbschema, der Bezug auf Michelangelo Antonioni, die Illusionen und Obsessionen, der Künstler als Hauptfigur, die Motive der Kindheitstraumatisierung, unterbewusster Wahrnehmungen und der Homosexualität, die tragende Funktion der Musik. Und dennoch scheint PROFONDO ROSSO, gedreht ab dem 09. September 1974 in sechzehn Wochen in Turin und den De Paolis Studios in Rom, den eigentlichen Beginn der Filmwelt des Dario Argento darzustellen. Die Kunst des Findens, die dieser Film mehr als jeder andere im OEuvre des Regisseurs repräsentiert, liegt dabei vor allem in der Intensivierung aller „argentoesken“ Elemente, einer äußerst konsequenten Intensivierung im Übrigen, die zugleich zu einem immer höheren Grad der Abstraktion führt.

In der Tat ist PROFONDO ROSSO der erste durchgängig abstrakte Film Argentos, ein formell ungemein feingliedriger und schwieriger giallo, dessen einzelne Elemente derart intensiv vorgeführt werden, dass der Film – und dies selbst bei mehrmaligem Anschauen – gleichsam ständig auseinanderzufallen droht. Viele Argento-Interpreten sehen in der erstmaligen Zusammenarbeit des Regisseurs mit der italienischen Progressivrock-Band Goblin den eigentlichen Schlüssel zu diesem ersten unverwechselbarem Film Argentos. Doch auch diese Zusammenarbeit folgt dem Prinzip der Intensivierung: Der Progressiv-Jazz Ennio Morricones aus den ersten drei gialli wird nun in der Klangfarbe und Instrumentierung intensiviert, der Jazz in die Rockmusik transformiert und gegenüber den Dialogen lauter abgemischt, die Kindermelodien werden gar von Goblin beinahe unverändert übernommen. Sicher ist es Argentos unbestreitbarer Einfluss auf seine jeweiligen Musiker sowie seine Arbeitsweise, einer bestimmten Mise-en-scène eine bestimmten Art von Musik zuzuordnen, die diese Kontinuität in erster Linie garantiert. Goblins Musik wirkt allerdings griffiger, weniger schwierig als die Morricones, und diese ist es auch, die in einem nicht unerheblichen Maße zur Popularisierung der Filme Argentos beigetragen hat – nicht zufällig wurde Goblins Soundtrack zu PROFONDO ROSSO in Italien ein Millionenseller.

Ein seltsam leerer Platz, ein einsames beleuchtetes Diner mit bewegungslosen Gästen, davor zwei Menschen, die beiden Musiker Marc (David Hemmings) und Carlo (Gabriele Lavia), auf ihrem nächtlichen Streifzug. Urplötzlich beobachtet einer dieser Nachtgstalten einen entsetzlichen Mord an einem Fenster. Marc eilt zum Tatort, durch einen Gang voller albtraumhafter Gemälde und Spiegel. Der Täter scheint bereits verschwunden, doch irgendetwas glaubt er am Tatort gesehen zu haben, das den entscheidenden Hinweis liefern könnte. Was ist es, das er und der Zuschauer in jener Nacht gesehen haben? Ein plötzlich verschwundenes Gemälde? Eine Reflexion im Spiegel? Vielleicht sogar den Mörder selbst? Marc und der Zuschauer machen sich auf die Suche nach dem Geheimnis dieser Nacht, nach einem lange zurückliegenden, furchtbaren Ereignis – und nach der eigenen Erinnerung. „Der Schlüssel zu allem liegt in der Vergangenheit“, wie Dario Argento behauptet, und auch Marc folgt den verschlungenen Pfaden zurück in diese Vergangenheit, zu einem verfallenen Haus, zu einer Kinderzeichnung, immer weiter zurück, nur um am Ende wieder am Anfang anzukommen – an jenem seltsam leeren Platz und bei seiner Erinnerung. Was hat Marc, was haben wir in dieser Nacht gesehen?…

Neben den psychoanalytischen, sind auch die wahrnehmungspsychologischen Bezugnahmen von Argentos Wahrnehmungskino (Vgl. hierzu: Bildtafel 1) in PROFONDO ROSSO nun enorm intensiviert. Es ist nicht nur die unterbewusste, subliminale Wahrnehmung Marcs (und des Zuschauers) des Killers gleich zu Beginn – tatsächlich wird Carlos Mutter als Mörderin für Sekundenbruchteile in einem Spiegel gezeigt -, sondern auch die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung sowie ihr radikal subjektiver Charakter, die zu den Thematiken des Films werden, hierbei sehr konsequent an Michelangelos Antonionis BLOW UP (1966) anschließend, als dessen filmischer, ja, sogar politischer Kommentar PROFONDO ROSSO gesehen werden kann: „Die Fehleranfälligkeit der Wahrnehmung, die Störung von Kommunikation und der damit einhergehende Verlust von Kontext werden in PROFONDO ROSSO immer wieder thematisiert – in nur teilweise enthüllten Gemälden, in von Lärm gestörten Telefongesprächen, in nicht erkannten oder unsichtbar gemachten Hinweisen – und finden auch auf struktureller Ebene ihre Entsprechung“ (Oliver Nöding). Wenn Antonioni in BLOW UP den Mythos der beat generation und der swinging sixties mit der letztlich gleichgültigen Distanziertheit David Hemmings’ bereits stark gebrochen hat, dann überführt Argento diese Distanziertheit nun in ein abgründiges Spiel von Kommunikationsstörungen, Traumatisierungen, gesellschaftlicher Brüche und letzlich der Isolation seiner Protagonisten. Es ist daher kein Zufall, dass der amerikanische Maler Edward Hopper – neben Antonioni – einen weiteren starken Bezugspunkt von Argentos Film bildet. Die „Tyrannei der Intimität“, die sich bei Hopper stets zeigt, weiß Argento in einigen beeindruckenden Bildern herzustellen – etwa mit diesem direkten Zitat von Hoppers Nighthawks (1942) als Schlüsselort des Films (Vgl. hierzu: Bildtafel 2) -, Bilder, deren Wirkungen und Stimmungen Vincent Price 1972 in seiner Geschichte der amerikanischen Kunst anhand von Edward Hoppers Gemälde Tables for Ladies (1930) sehr gut beschrieben hat: „Nicht die Menschen haben hier eine Persönlichkeit, sondern der Ort. Die Anonymität des kleinen Restaurants schafft eine geradezu heilige Atmosphäre und die Anonymität der Menschen machen aus ihm einen kleinen, traurigen Zufluchtsort… In Nighthawks sehen wir durch die leere Nacht in ein spärlich bevölkertes Diner und durch dieses hindurch die leeren Straßen, die niemandem gehören, außer der Nacht“.

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MICHELE SOAVI – Der Zauberer von Mailand

Il Mondo dell’orrore di Dario Argento (Dario Argento’s World of Horror, 1985)
Deliria
(Aquarius, 1987)
La Chiesa (The Church, 1989)
La Setta (The Sect, 1991)
DellaMorte DellAmore (1994)

Der 1957 in Mailand geborene Michele Soavi, Sohn eines bekannten Schriftstellers, war (und ist) so etwas wie ein Filmverrückter, der sein Studium abgebrochen hat, um zunächst als Kleindarsteller im Film zu arbeiten. Zu Beginn der achtziger Jahre begann Soavi dann als Schnitt- und Regieassistent bei zwei Regisseuren, die man als seine Mentoren bezeichnen könnte, bei dem als „Joe D’Amato“ bekannten Aristide Massaccesi – mit ungezählten Soft-, Hardcore- und Genrefilmen lange Jahre so etwas wie das Epizentrum des italienischen Exploitation-Kinos -, sowie ab Tenebre (1982) für Dario Argento. Letzterem widmete Soavi 1985 auch seine erste Regiearbeit, die Dokumentation Il Mondo dell’orrore di Dario Argento (Dario Argento’s World of Horror). Seine Spielfilmdebüt Deliria (1987) produzierte dann Massaccesi, die beiden darauffolgenden Filme La Chiesa (1989) und La Setta (1991) wiederum Argento. Mit DellaMorte DellAmore (1994) verabschiedete sich Soavi schließlich vom Horrorfilm und arbeitete ab der Jahrtausendwende fast durchgängig fürs Fernsehen. Als Kinofilme drehte er 2006 noch den gelungen Thriller Arrivederci amore, ciao (Eiskalt) sowie 2008 eine Verfilmung von Il sangue dei vinti (“Das Blut der Besiegten”), eines Buches des linken Journalisten Giampaolo Pansa über den Bürgerkrieg 1943/45 und die Befreiung Italiens vom Faschismus. Auch für Terry Gilliam arbeitete Soavi 1989 und 2005 noch gelegentlich als Regieassistent.

„Nach Argento ist es eigentlich nur noch Soavi, der etwas besitzt, das dem modernen Kino in seiner Spezialeffekte- und Hardewareverliebtheit weitgehend verlorengegangen ist und das dem Medium Film dennoch das pochende Herz ist: die Magie, das Staunen des Kindes über die Wunder der Fantasie“, so schrieb es Christian Kessler noch 1997 begeistert in „Das wilde Auge“. Aber ein zweiter „Joe D’Amato“ wollte Soavi nicht werden, ein zweiter Dario Argento konnte er nicht (mehr) werden. Ähnlich wie die Lamberto Bavas, so fiel auch Michele Soavis Arbeit bedauernswerter Weise in die Zeit des Niedergangs des italienischen Genrekinos. Lamberto Bava hat von Macabro (Macabro – Die Küsse der Jane Baxter, 1980) bis Misteria (Body Puzzle, 1991) durchaus noch ein Kino geschaffen, das sich durch eine sehr eigene Haltung auszeichnete, sich dabei an die Filme seines berühmten Vaters Mario Bava und seines Lehrers Dario Argento anlehnend, aber auch wieder bewusst von ihnen absetzend. Ein Kino übrigens, das einer anderen Zugangsweise bedarf, als die einer selbstermächtigenden Metaperspektive, denn vielleicht hat kein anderes Kino den kalt-distanzierten Sexus der achtziger Jahre treffender – und dabei ambivalenter – eingefangen als das Lamberto Bavas, der nicht zufällig bei Argentos Inferno (1980) und Tenebre (1982) als 1. Regieassistent fungierte (Werkschau Lamberto Bavas auf critic.de).

Michele Soavi

Michele Soavi hat das Kino Argentos hingegen als solches verinnerlicht, wie eine eigenständige Sprache, die man nur erlernt, um mit ihr dann ganz eigene Geschichten zu erzählen, eigene ästhetische Zugangsweisen zu erforschen. Nachdem Argento selbst seinen genuinen Zugang zum Filmemachen fast vollständig verloren hat – spätestens ab dem erschreckend leeren Il cartaio (The Card Player – Tödliche Pokerspiele, 2004) -, sind es daher nicht die zahlreichen, letzlich an formalen Oberflächen eines Fandoms bleibenden Neo-gialli, wie etwa Amer (Hélène Cattet/Bruno Forzani, 2009) oder Masks (Andreas Marschall, 2011), die uns eine Ahnung davon vermitteln, wie das einmalige Kino Dario Argentos von wirklichen Schülern hätte fortgeführt werden können, es sind die Filme Michele Soavis in ihrer formalen Hoheit und mit ihrer ganzen poetischen Kraft.

In seiner Dokumentation Il Mondo dell’orrore di Dario Argento (1985) – die erste und bis heute noch beste über das Kino Argentos – montiert Michele Soavi, neben den üblichen Interviews mit den Protagonisten und Behind-the-scenes-Ausschnitten, in 70 Minuten das aus dem Kino Argentos, was er an diesem liebt. Es sind neben den Set Pieces vor allem die poetischen, die bildhaften wie die rhythmischen Momente, die Soavi aneinanderreiht, ja, zum Teil gar neu arrangiert. So montiert er die Traumsequenz aus 4 mosche di velluto grigio (Vier Fliegen auf grauem Samt, 1971) mit dem Finale des Films zusammen, um so das vorwiegend bildhafte Bezugssystem Argentos für alle sichtbar werden zu lassen. Diese Dokumentation ist vor allem deshalb so faszinierend anzuschauen, weil hier ein Regisseur seine ganze Begeisterung für die Möglichkeiten der Sprache des Films zu vermitteln weiß. Noch deutlicher wird dies mit Soavis Deliria, der vor allem als Regie-Debüt fasziniert. Obwohl klar sein dürfte, dass ein Film in der Regel nicht chronologisch gedreht wird, vermittelt Deliria den Eindruck, als ob hier ein Regisseur zu Beginn noch vollkommen in der Ästhetik und den Genre-Versatzstücken der Zeit gefangen ist, nur um sich im Laufe der Films immer mehr und gegen Ende schließlich vollständig davon zu befreien. Hier erfindet Soavi, wie noch jeder Regisseur mit mehr als nur handwerklichen Ambitionen, das Kino für sich neu.



Deliria (1987)

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UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (1971) – Lucio Fulcis giallo für die Ewigkeit

Una lucertola con la pelle di donna (A Lizard in a Woman’s Skin, Lucio Fulci 1971)

Zuerst, ganz kurz nur, die Theorie und die Praxis. Zur Theorie. Was ist das Kino? In seinem Text zum Kino L’acinéma just zu Beginn der siebziger Jahre schrieb Jean-François Lyotard: „Kinematograph heißt Einschreibung, Aufzeichnung von Bewegung. Da wird mit Bewegung geschrieben“. Dies und dass das Begehren, so Lyotard, nicht als Mangel (von etwas) verstanden werden muss, sondern rein affirmativ, als Libido, Intensität, Energie. Das ist die Theorie des Kinos, des reinen Kinos („pure cinema“), wie es hier von Lucio Fulci geschaffen wurde.

Die Praxis ist der damals hochaufgeregte Autor, der zu Beginn der achtziger Jahre zu den über 1,6 Millionen Kinobesuchern hierzulande gehörte, die den noch erleuchteten Kinosaal betraten, um sich den „heißen Scheiß“ der Saison, den „zweiten Zombie“ anzuschauen: Woodoo – Die Schreckensinsel der Zombies (1979). Die Praxis ist die daraus entstandene Legende dieses Namens: „Fulci“, für den Menschen hinter dem Namen selber Segen wie Fluch, für die Behörden bald Zensurpraxis, für uns in der Folge sich wiederholende Sehpraxis: geöffnete und sich verflüssigende Körper, zerstörte Gesichter, unheilschwangere Chöre, dräuende Nebel und immer wieder Zooms, Blicke, Augen.

Nicht einen Schimmer hatte man als Horrorfan damals von der Kunst, zu der die Italiener das Kino zu Anfang der siebziger Jahre erhoben hatten, von der Intensität und Energie, von den psychologischen Abgründen und gesellschaftlichen Hintergründen, von der unfassbaren Schönheit, der Sinnlichkeit und formalen Hoheit. Was man bekam waren bereits Manierismen, exploitative Genre-Muster als Überbietungswettbewerbe sowie Vermarktungsstrategien.

Und natürlich jederzeit den Anlass zum „Expertengespräch“ darüber, dass „der bereits verboten“ und ein anderer „im Original noch viel härter“ sei. Ging man mal wieder aus dem Kino raus, entschuldigte man die zuvor nicht selten eingetretene Langeweile mit der Bemerkung: „Der ist wohl ziemlich geschnitten“. Man hatte nicht wirklich Ahnung von dem, was man da als späte Schattenwürfe eines filmischen Aufbruchs bewunderte.

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LA SINDROME DI STENDHAL (1996) von Dario Argento

LA SINDROME DI STENDHAL (Das Stendhal Syndrom, Dario Argento, 1996)

Sehnsucht
THE STENDHAL SYNDROME (1996) oder Die Macht der Bilder

„Man kann das Böse empfinden, nur weil man auf ein kleines Detail in der Ecke starrt und weiß, dass sich der Künstler damit vor Jahrhunderten abgequält hat“.

Dario Argento

Der französische Romantiker Henri Beyle (1783-1842), der sich selbst „Stendhal“ nannte, hat 1817 in den Tagebüchern seiner Italienreise erstmals einen von der Wirkung von Kunstwerken ausgelösten „physischen Zustand“ beschrieben, den sein Landsmann Seillière noch 1906 etwas sarkastisch als eine „romantische Krankheit“ bezeichnete. Nach der Betrachtung der Grabmäler Machiavellis, Michelangelos und Galileis und der Fresken Volterranos in der Kirche Santa Croce in Florenz, notierte Stendhal am 22. Januar in seinem Tagebuch: „Meine Bewegung ist so tief, dass sie fast religiös ist. Das feierliche Dunkel dieser Kirche, ihr schlichter, offener Dachstuhl, ihre unvollendete Fassade, das alles spricht eindringlich zu meiner Seele. Ach, könnte ich doch vergessen!… Ich war in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken; ich sah sie aus nächster Nähe und berührte sie fast. Ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz; man nennt das in Berlin Nerven; mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen“. Später wurde diese seltsame Symptomatik – eine Mischung aus Reisemüdigkeit, romantischer Sehnsucht und Überwältigung durch die Kunst – von Medizinern nach dem französischen Schriftsteller benannt: „Das Stendhal Syndrom“. Noch heute stehen in Florenz drei Krankenbetten für Besucher der Uffizien bereit, die diesem Syndrom erliegen.

Nachdem Argento eine Beschreibung des Syndroms in dem Buch „La Sindrome di Stendhal“ der freudianischen Psychoanalytikerin Graziella Magherini entdeckt hatte, war er sofort fasziniert von den filmischen Möglichkeiten, die es eröffnete: „Als ich weiter über das Syndrom nachforschte, fand ich heraus, dass es nicht nur gespaltene Persönlichkeiten und Halluzinationen verursacht, oder dazu führt, dass sich die Leute selbst Verletzungen beibringen; es verleiht den betroffenen Personen auch enorme physische Kräfte und löst oftmals Todessehnsüchte bei ihnen aus. Stendhal ist viel gereist – er schrieb unzählige Reisebücher – und war ein absoluter Verehrer der Dichtung Lord Byrons. Er gehörte zu jenen Vollblutromantikern, die meiner Meinung nach empfänglicher dafür waren, durch die Schönheit überwältigt zu werden. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass er müde war – das Touristendasein ist anstrengend -, das könnte viel mit dem Schwindelerregenden seiner Symptome zu tun haben. Dennoch kann man nicht abstreiten, dass das Syndrom existiert, denn in Florenz fällt ihm bis heute eine Person pro Tag zum Opfer. Nun gab es da einen ungewöhnlichen Zustand, der all die charakteristischen Eigenarten aufwies, die ich für Wert hielt, sie in Drehbuchform zu diskutieren. Du schaust ein Gemälde an und deine Seele verändert sich. Du siehst ein Meisterwerk und es ist unmöglich, hiernach noch dieselbe Person zu bleiben. Man kann das Böse empfinden, nur weil man auf ein kleines Detail in der Ecke starrt und weiß, dass sich der Künstler damit vor Jahrhunderten abgequält hat. Meine ganze Aufregung galt der Tatsache, dass die Kunst für gewöhnlich für etwas gehalten wird, was den Geist anregt, und nicht für etwas, dass ihn zerstört oder überwältigt. In der Schule wurde uns erzählt, die Kunst könne unser Leben bereichern. Stendhal hat entdeckt, dass dies nicht wahr ist. Sie kann ebenso entkräftend sein. Die Möglichkeiten der Kunst interessierten mich schon immer brennend. So wurde in der Regel angenommen, dass Gewaltdarstellungen im Film und Fernsehen Gewaltbereitschaft im Betrachter auslösen. Die ersten zwanzig Minuten SUSPIRIAS wurden oft als Beispiel dafür angeführt, dass die Leute ihr Bewusstsein verlieren, aber so ist es auch bei der Kunst. Das sind die Fragen, die ich mit THE STENDHAL SYNDROME aufwerfe“.

Diese Zitat Argentos, eines der aufschlussreichsten des Regisseurs über sich und sein Werk überhaupt, verdeutlicht nicht nur sehr gut dessen zentrale Bezugnahme auf die literarische Romantik und die bildende Kunst, es spricht auch das sehr spezielle Kunstverständnis Argentos an, auf das THE STENDHAL SYNDROME (it. LA SINDROME DI STENDHAL) nun selbst Bezug nimmt, ein Film, der in vielerlei Hinsicht die künstlerische, thematische und filmstilistische Essenz und einen Höhepunkt eines seit Ende der sechziger Jahre ununterbrochenen Experimentierens und Forschens darstellt. Oft hat man bei THE STENDHAL SYNDROME von einer Rückkehr Argentos gesprochen, und dies nicht ohne eine gewisse Berechtigung, von einer Rückkehr nach Italien, zum giallo-Format (obwohl erst SLEEPLESS wieder als reiner giallo zu bezeichnen ist) und der von Alfred Hitchcock beeinflussten Inszenierung, zu einer einmal erreichten stilistischen Geschlossenheit, doch ist dieser Film auch ein Ankommen, der Abschluss einer langen Suche, ein selbstreflexiv gewordenes und im vollen Bewusstsein seiner filmsprachlichen Möglichkeiten entstandenes, reifes Hauptwerk.

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NEO-GIALLO – THE NEON DEMON (2016) von Nicolas Winding Refn

The Neon Demon (Nicolas Winding Refn, 2016)

A movie love to hate: The Neon Demon ist eine coming of age-Geschichte der Hauptprotagonistin Jesse (Elle Fanning) in der hypermodernen Oberflächenwelt des Modell-Business und der Synthesizer-Klänge mit ihren dumpfen Rhythmen, Klangflächen und kleinen verführerischen Melodien (des deep base und trance). Er ist auch die Geschichte des unschuldig-reinen Mädchens vom Lande, das in der archischen Urhorde des Business den drei bösen (weil: coming out of age) Hexen Ruby, Sarah und Gigi (Jena Malone, Abbey Lee Kershaw und Bella Heathcote) begegnet, die sich am Schluss – das Urbild des archaisch-magischen Rituals schlechthin – die Kraft des Feindes mit dessen Körper und Auge einverleiben – das Auge, weil es in Nicolas Winding Refns Film um das Sehen geht. Erzählt wird dies in einer Bildsprache, die vollkommen scham- und haltlos mit der Selbstzweckhaftigkeit des Schönen, der Farben, des Lichts, der Rhythmen, der Formen und des Goldenen Schnitts verführt.


The Neon Demon

Das, was man in der Filmwissenschaft mittlerweile „Neo-giallo“ nennt, hat micht nie überzeugt – bis zu The Neon Demon. Denn genau das, was den giallo eigentlich ausmachte, schafft Refn hier in beeindruckender Art und Weise erstmals wieder neu: die Verbindung eines rein affirmativen und performativen Kinos der Schöhnheit und der Verführung mit den finstersten Ausprägungen der menschlichen Psyche und dem Archaischen. Der Film hat dabei kein wirkliches Narrativ, er liefert diesbezüglich nicht mehr als ein paar zweckdienliche Hinweise, er hat folglich auch keine Moral. Wie für Argento, so scheint auch für Refn Moral hier vielmehr eine Frage eines „ästhetischen Verhaltens“ (Nietzsche) zu sein. So lautet der zweckdienlichste Hinweis in dem Schlüsselsatz des Films dann auch: „Schönheit ist nicht alles – Sie ist das Einzige.“

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